Kirchgemeinde Grimma
GEISTLICHER IMPULS
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug. Ich bin dein Trank.
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen die Samtsandale, die ich bin.
Ich kann nicht glauben, dass der kleine Tod,
dem wir doch täglich übern Scheitel schaun, uns eine Sorge bleibt und eine Not.
Ich kann nicht glauben, dass er ernsthaft droht;
ich lebe noch, ich habe Zeit zu bauen: mein Blut ist länger als die Rosen rot
Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt. Ich habe auf einmal so viel Sinne, die alle anders durstig sind. Ich fühle mich an hundert Stellen schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.
Ich möchte sterben. Lass mich allein. Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein, dass mir die Pulse zerspringen.
(Reiner Maria Rilke, Auszug aus seinem Gedichtband Stundengebete)
„Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch die Finger rinnt.“
Wir kennen dieses Gefühl, das manchmal am Ende eines trüben Novembertages kommt. Es ist eine Wahrnehmung unserer Vergänglichkeit. Wir nehmen unsere Sterblichkeit wahr, und vielleicht geht dies soweit, dass wir meinen, dass es ohne uns gar nicht weitergeht.
„Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? . . . Nach mir hast du kein Haus, darin dich Worte, nah und warm, begrüßen . . . Ich bin bange.“
Diese Aussage ist eine Seite der Medaille, diese Furcht, diese Resignation vor unserem Tod. Die andere sieht ganz anders aus und gehört auch zu dieser Stunde des Lebens:
„Ich kann nicht glauben, dass der kleine Tod, dem wir doch täglich übern Scheitel schauen, uns eine Sorge bleibt und eine Not.“
Und danach geht es noch weiter:
„Ich kann nicht glauben, dass er ernsthaft droht; Ich lebe noch, ich habe Zeit zu bauen: mein Blut ist länger als die Rosen rot.“
So spüren wir auch am Ende des Kirchenjahres, dass wieder ein neuer Tag kommen wird, an dem wir weiter arbeiten können. Es muss nicht alles auf einmal gemacht werden. Wir müssen unser Scheitern nicht als Ende verstehen.
„Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt“.
Es geht noch weiter, unser Leben, auch wenn wir wissen, dass es begrenzt ist. Wir können uns durch eine solche Gelassenheit ermutigen lassen, weil wir wissen, dass unser Blut „länger als die Rosen rot“ ist. Nach dem Herbst und dem Winter, ob als Jahressaison oder als Lebensphase, kommt die Erneuerung des Frühlings. Der kleine Tod ist nicht als Ende, sondern als ein möglicher Anfang zu verstehen. Er bleibt nicht als eine „Sorge“ und eine „Not“. Es geht weiter.
Gesegnete Herbsttage wünscht
Pfarrer Henning Olschowsky